Thomas Welskopp war Gründungsmitglied der German Labour History Association und seit Gründung im Vorstand tätig. Nach schwerer Krankheit verstarb er am 19. August 2021.
Thomas Welskopp war ein herausragender Sozialhistoriker, dessen geschichtswissenschaftliche Verdienste für die Labour History und die Geschichtswissenschaft in Deutschland man nicht genug würdigen kann. Er wuchs in einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet auf, studierte Geschichte und Soziologie in Bielefeld (zudem ein Semester an der Johns Hopkins University) und machte 1988 in Bielefeld seinen Abschluss. Er lernte also die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte in ihrem damaligen Zentrum kennen, der „Bielefelder Schule“ um Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. 1992 promovierte Thomas Welskopp in Berlin mit einer vergleichenden Studie zu den Arbeitsbeziehungen und zur Arbeiter:innenschaft in der deutschen und US-amerikanischen Eisenindustrie. Thomas Welskopp bewegte sich inmitten der klassischen Themen der Arbeits- und Sozialgeschichtsschreibung, setzte aber bereits hier eine Duftnote. Er wandte sich gegen das damals in der Sozialgeschichtsschreibung vorherrschende Konzept der „Klassenbildung“ und wählte stattdessen einen milieutheoretischen Zugang. Thomas Welskopp argumentierte (bis zuletzt!) nicht gegen den Klassenbegriff oder ein Verständnis kapitalistischer Gesellschaften als Klassengesellschaften, sondern gegen die simplifizierende Vorstellung, die Industrialisierung habe die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen homogenisiert, so dass diese sich als Klasse organisieren und selbst verstehen konnten. Thomas Welskopp fragte somit nicht nach den gesellschaftlichen Zwangsläufigkeiten, die zu Klassenbewusstsein und im folgenden Schritt zur Organisierung in Arbeiter:innenparteien und Gewerkschaften führten. Eher könnte man mit Thomas Welskopp fragen, welche Widrigkeiten und Unterschiede in den Lebenspraxen die Arbeiter:innen überwanden und welche Anstrengungen sie unternahmen, um eine Klasse zu bilden und ihre Organisationen entstehen zu lassen. Diesen Fragen ging Thomas Welskopp mit einem praxeologisch geschärften Blick 1999 in seiner Habilitationsschrift zur Geschichte der Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz nach. Thomas Welskopp war zu diesem Zeitpunkt bereits ein profilierter Vertreter der „kulturalistischen“ Wende in der Sozialgeschichtsschreibung. Die Ursprünge der Sozialdemokratie sieht Thomas Welskopp denn auch nicht in einer vorhergehenden Klassenformation, sondern in einer radikaldemokratischen Volksbewegung. Erst im Kaiserreich habe sich die Sozialdemokratie zu einer Klassenorganisation der Arbeiter:innen entwickelt – ein Prozess, der überhaupt mit der scharfen Trennung von Bürger:innentum und Arbeiter:innenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einherging, an der die Sozialdemokratie wiederum ihren organisatorischen Anteil hatte. Nur wenige Historiker:innen vor und nach Thomas Welskopp sind dabei so tief in die Quellen der frühen Arbeiter:innenbewegung eingetaucht.
Bis Anfang der 2000er-Jahre arbeitete Thomas Welskopp am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin, vertrat dann Professuren in Zürich und Göttingen und lehrte schließlich ab 2004 als ordentlicher Professor „Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte moderner Gesellschaften“ an der Universität Bielefeld. Seine Schwerpunkte blieben die Labour History und die theoretischen Probleme der Geschichtswissenschaft. Seinen kulturhistorischen Zugang verfolgte er in den folgenden Schriften und Herausgeberschaften weiter. 2010 verfasste er eine umfangreiche Arbeit zur Prohibition, in der er eine Geschichte des (alkoholisch strukturierten) Lasters mit der Analyse ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Konflikte verband, die die Prohibition begleiteten.
Thomas Welskopp war einer der wichtigen Historiker Deutschlands, für uns aber war er insbesondere ein immer solidarischer Kollege, ein einfühlsamer und herzenswarmer Freund. Thomas war ein „unprofessoraler“ Professor, der auf Augenhöhe mit den Menschen war, gleich, ob es sich um etablierte Kolleg:innen handelte, um Promovenden oder Studierende. Thomas suchte nicht die große Bühne oder den selbstverliebten Auftritt. Die Bielefelder Studierenden und Promovierenden können dies aus eigener Anschauung besser berichten als wir. Dass Promovierende keine Angst mehr haben müssen vor dem Bielefelder Oberseminar, liegt auch an Thomas.
Thomas war kein Verkäufer seiner selbst; an Diskussionen beteiligte er sich, wenn er meinte, etwas beitragen zu können. Thomas gehörte seit 2014 zu dem Kreis der Kolleg:innen, die das Kolloquium „Geschichte der Arbeitswelten und der Gewerkschaften“ organisieren. Die Bielefelder Graduate School in History and Sociology war bislang dreimal Ausrichterin dieser Tagesveranstaltung, die jedes Mal ein intensives Diskussionserlebnis und ein kulinarisches Event waren. Die deftigen westfälischen Buffets sind legendär (wobei auch Veganer:innen und Vegetarier:innen auf ihre Kosten kamen). Aus dieser Runde heraus wurde im Februar 2017 in einem Hotel in Augsburg die German Labour History Association gegründet – nicht in einem glamourösen Sitzungssaal, sondern in einer Ecke des Frühstücksraums. Diese unprätentiöse Entstehungsgeschichte der GLHA korrespondierte mit dem Habitus von Thomas. Der Impuls zur Gründung der GLHA kam zwar von außen, aber Thomas war sofort Feuer und Flamme. Und Thomas gab schließlich auch die Anregung zur ersten Konferenz der GLHA im Jahr 2020: „Freiheit der Arbeit im Kapitalismus“. Durch seinen frühen Tod warten die Vorarbeiten von Thomas zu einer neuen Geschichte des Kapitalismus nun auf die offenen Augen und Ohren jüngerer Labour Historians.
Thomas Welskopp wurde 59 Jahre alt. Wir werden ihn vermissen.
Stefan Müller (für den Vorstand der GLHA), 23.8.2021
Thomas Welskopp Obituary (English version)
Annotation
- Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck 2014.
- Amerikas große Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010.
- Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2000.
- Arbeit und Macht im Hüttenwerk. Arbeits- und industrielle Beziehungen in der deutschen und amerikanischen Eisen- und Stahlindustrie von den 1860er bis zu den 1930er Jahren, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 1994.